
ISBN 978-3-00-051819-5
Neu im März 2016


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Aus meinem Buch
Brandenburgs berühmte Töchter und Söhne
Wartberg Verlag, September 2011
Dieses und alle anderen Bücher können Sie käuflich bei mir über das Kontaktformular erwerben
Eine Reihe von Brandenburgern ist berühmt geworden. Sie haben Bauten und Kunstwerke erschaffen, wie Karl Friedrich Schinkel und Jakob Philipp Hackert, sie verfassten Weltliteratur, wie Heinrich von Kleist und Gottfried Benn, hielten uns satirische Spiegel vor wie Loriot. Sie haben Dinge erfunden, die aus unserem heutigen Leben nicht wegzudenken sind, wie das Anilin, die Kleinbildkamera und die Reißzwecke, und sogar ganze Industrien begründet, wie der Chemiker Ernst Schering. Sie suchten ihr Glück in der Nähe der Mächtigen, wie Samuel Bleichröder und Gustav Noske, trugen große Ideen in die Welt wie Wilhelm von Humboldt, legten Zeugnis von Mut und Unrecht ab wie die Jüdin Inge Deutschkron.
Johann Kirsten
Große Ideen im märkischen Hinterhof
Große Ideen entstehen bekanntlich in den kleinsten Garagen. Keinesfalls nur im kalifornischen Palo Alto, wo geniale Studenten die ersten PC’s bauten. Oh nein, auch in märkischen Hinterhofwerkstätten entstand Einmaliges. Sie müssen nur bis Lychen fahren. Bei der Stadt liegt der Wurlsee, und auf einer Halbinsel das Hotel Lindenhof. Da sehen sie es: eine zweieinhalb Meter hohe rostige Stele mit einer riesigen Reißzwecke darauf. In Lychen gibt es sogar Reißzwecken in 150facher Vergrößerung als touristische Hinweisschilder. Und an einem alten Haus in der Berliner Straße 13 ist ein Schild: „Um das Jahr 1900 lebte in diesem Haus der Uhrmacher Johann Kirsten. Er erfand die Reiß- oder Heftzwecke (Pinne).“
Viel weiß man heute über den Uhrmacher nicht. Er hat kein Grab in Lychen. Alten Berichten nach war er ein trinkfreudiger, kauziger, chaotischer Typ. Deshalb brachte er in seiner Werkstatt gerne Merkzettel mit Nägeln an. Weil die eher den Daumen trafen als die Wand, setzte er im Jahre 1902 oder 1903 ein gewölbtes Stück Blech auf einen kurzen Nagel und nannte den Stift Pinne. Er ließ zwei Arbeiterinnen Pinnen produzieren, aber dann verkaufte er die Erfindung an die Lychener Metallkurzwarenfabrik Lindstedt. Deren Inhaber verbesserte die Pinne, so dass sich der Stift nicht mehr durch das dünne Metallplättchen bohrte. Am 8. Januar 1904 meldete Otto Lindstedt die „Heftzwecke“ zum Patent an. Zwischen 6000 und 7000 Stück produzierte eine Arbeiterin pro Tag, entweder in der Fabrik oder in Heimarbeit. Lindstedt wurde Millionär und exportierte die „Original-Record Sicherheits-Reissbrettstifte“ nach ganz Europa. Am 30. April 1945 brachte Lindstedt sich und seine Familie aus Angst vor den Russen um.
Die Produktion ging aber weiter. Im „VEB Metallwarenfabrik Lychen“ am Seeufer stellten Arbeiterinnen und später Stanzautomaten bis 1966 „feinste Reißnägel“ namens „Lymefa“ her. Nach der Wende erinnerten sich die Lychener wieder an ihre Reißzwecken. Aus Begeisterung gründeten sie sogar eine „AG Reißzwecke“. Und eigentlich ist es ja auch wunderbar. Obwohl heute kein Architekt mehr Pläne an ein Reißbrett pinnt und Studenten ihre „Pinnwände“ im Internet bei Facebook haben, ist die Reißzwecke allgegenwärtig. Machen Sie nur Ihre Schubladen auf! Da liegt eine Schachtel voll. Und denken Sie dann ruhig mal an den schrulligen Uhrmacher Johann Kirsten. Der hat nämlich am Welterfolg seiner Erfindung keinen Pfennig verdient.
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Aus meinem Buch:
Brandenburgs Rathäuser. Geschichten und Anekdoten
Wartberg Verlag 2010
ISBN 978-3-8313-2125-4 11 €
"Gudrun Küsel beschreibt die vierzehn Stationen ihrer Rathausreise in einer gut reflektierten, mit Witz und Sarkasmus gewürzten Sprache. Dank einer Nichte an ihrer Seite könnte man gar von Gestaltungen sprechen, von großstädtischen, klar! Da lernt selbst der markigste Märker eine ganze Menge dazu." Potsdamer Neueste Nachrichten 20.11.2010
Brandenburg an der Havel
Kirchenmaler und Latte Macchiato
Der Mann ist an den Händen gefesselt. Er muss sich auf einen Steinsockel mit einer Vertiefung setzen. Er hört ein metallisches „klack“. Das Halseisen ist in den Ring an der Wand eingeschnappt. Die Tür geht zu. Es wird stockdunkel in dem anderthalb mal zwei Meter großen Verließ. Keine Sorge! Dies ist keine mittelalterliche Schauergeschichte, sondern ich selbst habe mich in das Verließ im Turm gesetzt und ein bisschen fantasiert. „So musste man hier wirklich auf seinen Prozess warten“, sagt die nette Kunsthistorikerin, die mich im Brandenburger Rathaus herumführt. Das Gruseln schenke ich mir. Haben Sie schon mal ein paar Stunden in der Arrestzelle einer Polizeiwache verbracht? Nein? Das ist zu allen Zeiten und in jedem Land eine trübselige Erfahrung.
Im backsteinernen Rathaus am Alten Markt dagegen ist alles hell. Sogar die alten Steine aus dem 15. Jahrhundert sehen aus wie frisch hellrot eingefärbt. Sie sind nur mit einer dünnen neuen Putzschicht überzogen, sodass man hindurchsehen kann.Zum Rathaus gehört auch das „Ordonnanzhaus“ nebenan, ein Wohn- und Speicherhaus aus der Zeit um 1300. Es ist das älteste und größte mittelalterliche Bürgerhaus der märkischen Städte. Im Dachgeschoss ist ein Sitzungssaal. Er ist supermodern.
„Ich find’s kalt!“, sagt Fiona.
Fiona! Das habe ich vergessen zu erwähnen Meine Nichte hat beschlossen, mich auf dieser Reise zu begleiten. Zum Zeitvertreib. Fiona ist vierundzwanzig, hat Informatik studiert und keinen Job. Sie hat eine schwarze Lacklederjacken und Lackstiefel an, weiß alles über Computer und nichts über Geschichte. Das kann was werden!
Diesmal hat sie recht. Es ist kalt hier. Wir haben März. Der Dachstuhgl von 1483 besaß natürlich keine Wärmedämmung, sodass es immer zu warm oder zu kalt war. Beim nächträglichen Einbau einer Dämmung wurde ein "denkmalverträglicher Kompromiss" gewählt. Deshalb müssen sich die städtischen Angestellten bei ihren Debatten manchmal warm anziehen.
Wie in allen alten Gebäuden gibt es auch im Brandenburger Rathaus ein geheimes Ecklein. Genauer - es gab eins. Das Ordonnanzhaus verfügte seit seinem Umbau um 1470 herum über allerhand Luxus: hohe Dielen, Kreuzrippengewölbe, Kapelle - und eine lauschige Trinklaube mit floralen Gemälden und Trinksprüchen an den Wänden. Die Restauratorin dieser Bemalung fand 2006 eine eingemauerte bunte Tabakdose mit einem Zettel darin. Ihr Restauratorkollege von 1912 hatte der Nachwelt eine verärgerte Botschaft hinterlassen. Ihm war ein Auftrag geplatzt: „Umstehende Skizze wurde am 9. Mai 1912 hier eingemauert gelegentlich der Ausbesserung dieser alten Malerei von 1470 durch den Kirchenmaler Ernst Dietrich aus Berlin. Die Skizze stellt eine Gedächtnistafel dar für Engelbert Wusterwitz. Diese Tafel sollte in der Katharinenkirche aufgehängt werden. Jedoch wurde das Vorhaben durch das Dazwischentreten von Herrn Blaue inhibiert. Brennaburg 9. Mai 1912.“ Dafür, dass der Mann schwer beleidigt war und die Aufdeckung des Verstecks nicht befürchten musste, hat er sich eigentlich sehr sanft ausgedrückt. Der Respekt vor der Obrigkeit war damals tief in die Herzen eingegraben. Die Tabakdose steht bei der netten Kunsthistorikerin im Büro. Das kleine Blechgefäß markiert einen wichtigen Einschnitt in der Geschichte des Gebäudes. Vor der Restaurierung im Jahre 1912 war das Rathaus fast zweihundert Jahre lang dem Verfall ausgeliefert.
Brandenburg ist die älteste Stadt der Mark. Die „Brandenburg“ gehörte abwechselnd Slawen und Germanen und fiel 1157 endgültig an Albrecht den Bären. Er nannte sich fortan Markgraf von Brandenburg. Mitte des 12. Jahrhunderts entwickelte sich am westlichen Havelufer eine Ackerbürgersiedlung. Sie erhält 1170 Magdeburger Stadtrecht samt Zollfreiheiten. Landesherren gründeten damals gerne Städte. Das heißt, sie ließen kleine Siedlungen in der Nähe von Burgen planmäßig ausbauen. Mit den verteidigungsbereiten Stadtbewohnern konnten sie ihren Besitz befestigen. Als Konkurrenz zur königlichen Brandenburger Altstadt gründete Markgraf Otto I., der Sohn des „Bären“, fünfundzwanzig Jahre später auf der östlichen Uferseite die Neustadt Brandenburg. Erst Jahrzehnte später entstanden die Städte Berlin, Spandau, Cölln, Frankfurt, Angermünde, Gransee und andere.
Die beiden Brandenburg-Städtchen betrachten sich Jahrhunderte lang als Rivalen. Im Jahr 1314 treten sie getrennt der Hanse bei. Immerhin errichten sie einen gemeinsamen Schöppenstuhl als oberstes Gericht der Mark Brandenburg. Das Gebäude stand genau auf der Trennungslinie zwischen Neu- und Altstadt, an der Langen Brücke, direkt im Fluss. Aus Gründen der Gerechtigkeit. Im Jahr 1700 stürzt das Gebäude ein. 1714 wird Brandenburg Garnisonstadt. Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. befielt die lange überfällige Vereinigung beider Städte. Die Verwaltung zieht in das Neustädtische Rathaus um. Der Niedergang der Altstadt beginnt.
Das Altstädtische Rathaus steht erst leer, dann wird es nacheinander Wache, Stofffabrik, Kornmagazin, Kreisgericht, Kleiderkammer und Arrestzelle für das Militär. Von den gotischen Zierformen ist nichts mehr zu sehen, als es 1904 wegen Baufälligkeit geräumt wird. Die Stadt kauft das Rathaus zurück. Die Wiedereröffnung des Rathauses 1912 ist Höhepunkt der Hohenzollern-Jubelfeiern in diesem Jahr. Heute ist es der Amtssitz für die ganze Stadt.
Das Rathaus in der Neustadt gibt es nicht mehr. Es wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Aber im Herzen der Brandenburger sind Altstadt und Neustadt immer noch nicht so ganz dasselbe. „Sogar die Touristen machen an der Jahrtausend-Brücke halt, weil sie denken, dahinter kommt nichts mehr“, sagt die Kunsthistorikerin Anja Castens, „die wissen gar nicht, wie schön es hier ist."
Von den Fenstern des Rathauses aus blickt man auf den Marktplatz, der früher viel größer war als jetzt. Gleich links steht das alte Inspektor-Wohnhaus aus dem Jahre 1742, das jetzt ein Restaurant ist. Ein altes weißes Giebelhaus beherbergt das kleine Café Undine und die Stadtbücherei. Im Café gibt es selbstgebackenen Kuchen und die Besitzerin mag große Hunde. Als einzige Tageszeitung für die Gäste liegt die „TAZ“ aus.
„Latte Macchiato, bitte!“
Fiona schlägt ihre Beine in den kniehohen Lackstiefeln übereinander und atmet tief durch.
Der altertümlich gekleidete Mann am Nebentisch amüsiert sich sichtlich über Fiona. Als habe er die „Inhibierung“ seines Auftrags verziehen. Plötzlich ist er weg.
Das Kurz-Porträt des späteren Bewerbers um das Amt des Bundespräsidenten, Peter Sodann, wurde von der "Bild der Frau" 1995 als zu "ost-freundlich" bewertet. Eine beherzte Berliner Redaktionsleiterin druckte es trotzdem.
Peter Sodann: Warum ich mich jetzt mit dem Leben beeilen muss
von Gudrun Küsel / Bild der Frau Nr. 15 v. 10. April 1995

Seine Vier-Zimmer-Wohnung in der Hallenser Altstadt sieht „Tatort-Kommissar Ehrlicher“ Peter Sodann (59) nur spät abends. Ein Schwätzchen mit Lebensgefährtin Cornelia (39), ein Radeberger Pils, eine halbe Stunde lesen – mehr Zeit für Privatleben bleibt ihm nicht. Vierzehn Stunden Arbeit – das ist sein Tag. „Und das ist gut so“, sagt er. „Ich mag keine Leute, die immer nur an sich selbst denken. Den „Ehrlicher“ hat man ihm auf den Leib geschrieben: ein eigenwilliger Mann mit großem Herzen. Nach außen hin eher spröde, aber innen drin ein Energiebündel, wenn es darauf ankommt, die eigenen Ziele und die Rechte anderer durchzusetzen.
Genau das hat er mit dem „Rat der Spötter“ schon früher getan. Dieses Kabarett-Theater gründete er mit 23 Jahren, um sich lustig zu machen über die Macht und die Mächtigen in der DDR. Deren Antwort: zehn Monate Einzelhaft und vier Jahre Bewährung. „Heute bin ich nicht mehr so radikal wie in meiner Jugend. Dafür bin ich jetzt klüger. Ich habe mich nicht verändert, aber ich richte mein Leben manchmal neu ein.“ Wie das geht? „Na, ganz einfach, ich habe wieder ein Theater gebaut“.
Das „neue theater“ in Halle: Peter Sodanns Büro ist sparsam möbliert. Schreibtisch, Waschbecken, Bücher auf den Fensterbrettern. „Ich habe meine Theater für die Bürger dieser Stadt gebaut. Ich will Freude verbreiten und die Bürger so zum Nachdenken zwingen.“
Voller Stolz führt der die Besucher durch seine „Kulturinsel“. Durch das verschnörkelte weiße Säulenportal mit der Inschrift: „Wer des Weges kommt, trete ein.“ Und dann ganz eilig zu seinem Lieblingsplatz. Über Treppenstufen und verwinkelte Durchgänge. Vorbei an dem blauen Trabant mit dem Transparent „Vorwärts und nicht vergessen“. Durch den Bierkeller, das Café, die Galerie und den Hotelkomplex, der gerade gebaut wird. Hinauf zum Solardach. Zu dem goldenen Türmchen, in dem eine richtige Kirchenglocke morgens die Theaterprobe und abends die Vorstellung bis weit in die Stadt hinein einläutet. Peter Sodann, der Rastlose? „Weiß nicht“, sagt er, „manchmal muss man sich mit dem Leben beeilen.“ Zufrieden, aber ohne Eitelkeit fügt er hinzu: „Ich bin doch ein reicher Mann. Ich gehe durch die Stadt, und die Leute grüßen mich.“ Hat Peter Sodann Angst vor dem Altwerden? „Ich komme überhaupt nicht dazu, darüber nachzudenken. Außerdem weiß ich gerade mal, was jetzt ist.“
1981 kaufte er ein paar Ruinen in der Hallenser Innenstadt. Seitdem ist er – der Schauspieler – Bauleiter, Maurer, Schauspieldirektor, Regisseur und Manager in einer Person. „Was du nicht selber tust, das tut kein anderer für dich“, sagt er so lapidar, dass es schon fast wieder weise klingt. In drei Jahren soll der Bau fertig sein. Dann will er wieder Theater und im Fernsehen spielen.
Wenn er sich nach Ruhe sehnt, dann ist da das kleine Haus mit dem großen Garten davor. Weinböhla bei Meißen. Hier tankt er jeden Sonnabend auf. „Dann pflanze ich einen Baum.“ Sagt er ein wenig pathetisch. Tannen, Birken, ein Vogelbeerbaum und ein Gingko – fünfzig Bäume sind es mit der Zeit schon geworden, ein kleines Wäldchen. „Bloß keine Obstbäume, denn niemand in der Familie hätte Zeit, das Obst einzuwecken.“
Die Familie – das sind Sodanns vier Kinder aus erster Ehe: Tina (31), Susaanne (28), Franz (21) und Karl (18). Franz bewirbt sich gerade an der Schauspielschule, Susanne leitet die Gastronomie in seinem Theater. „Das hat sich so ergeben, aber ich will keinen Familienbetrieb. Meine Kinder sollen ihre eigenen Wege gehen.“ Verstohlen blinzelt er vom verwinkelten Bühnendach in die Silhouette der Hallenser Innenstadt. „Die Menschen da unten suchen ihre neue Identität. Ich will ihnen dabei ein wenig helfen. Klar, ich laste ihnen mit meiner Kunst vielleicht mehr auf, als die vertragen. Aber Hut ab, sie kommen in mein Theater.“
Meine Krimi-Geschichte hat auch was mit der deutschen Vergangenheit zu tun....
Gudrun Küsel
Das Salz der Tränen
Aus der Anthologie "Mit Zorn, Charme & Methode"
Fischer Taschenbuch Verlag, 1992
Die Erinnerung an das Blut wurde langsam schwächer. Zwischen den Beinen des Mannes. Da, wo einmal der Schwanz war. Seine Hosen waren halb heruntergezogen. Kashmir. Gucci-Schuhe. Seltsamerweise waren die Hoden nicht entfernt worden, was das Absurde des Anblicks steigerte. Dicht neben dem Mann ein blutiges Stückchen Fleisch. Ich hatte mich einen Moment lang an indonesische Wunderheiler erinnert, die Schweinsblasen aus dem Ärmel zauberten, um eine Operation vorzutäuschen. Das war gestern nacht um zwei Uhr.
Jetzt war es sieben Uhr früh, und ich lag unter einer Decke auf einer Liege, die Beine etwas angewinkelt, und räkelte mich. Der Duft nach Thymian und Rosenöl, der tief in die Bronchien einzog. Die Meditationsmusik. Schlaf. Noch einmal etwas Schlaf. "Entspannen Sie sich, Mara", sagte die Kosmetikerin. Ich wurde wieder etwas wach.
Die Erinnerung an gestern Nacht. Das Haus in der Ackerstraße im Ostteil der Stadt. Scheunenviertel. Im dritten Hinterhof, wo die Leiche von Konsul Krüger gelegen hatte. Die Hausbewohner hatten die Polizei alarmiert und standen bei unserem Eintreffen dicht gedrängt auf dem Hof. Die Leute von der Spurensicherung und Kommissar Andres hatten Mühe, sich durchzudrängeln.
"Hier kommt nur die Polizei rein", sagte ein unrasierter Mann in Pantoffeln zu mir. Die Augen des Mannes wanderten von meinen hochhackigen Pumps aufwärts und blieben irgendwo im Dekollete meiner zu tief ausgeschnittenen wildledernen Bluse und dem Platinkettchen darin hängen. Wie hätte ich nach dem Abendessen mit Leo bei mir zu Hause auch ahnen sollen, dass mir noch der Anblick eines kastrierten Kerls bevorstand. Ich zeigte dem Mann meine Polizeimarke. Ihm klappte die Kinnlade herunter. Diese Bewegung schien ihn anzustrengen; denn er ließ mich vorbeigehen, ohne weiterzusprechen .
Ich kämpfte mich zur Leiche durch. Ich starrte das gekrümmte blutende Etwas neben dem Toten an und überlegte, wieviele Frauenherzen es wohl gebrochen haben mochte. Und fast einmal meines, überlegte ich, und fand die ganze Situation plötzlich lächerlich. Konsul Krüger war mein Hausnachbar. Vor ein paar Wochen war meine Hündin durch den Gartenzaun auf die Terrasse seiner Villa gelaufen, um an seiner Grillparty teilzunehmen. Der Konsul hatte mir seinen Weinkeller gezeigt. Die angenehme Kühle des Kellers und der schwere Weindunst hatten uns beide ein wenig berauscht.
Ich starrte versonnen den derangierten Unterleib des Konsuls an.
"Sie müssen sich das wirklich nicht ansehen", sagte Kommissar Andres.
"Bin schon aufgeklärt." Ich bemühte mich um einen verärgerten Tonfall. Kommissar Andres war stets besorgt um mich wie eine Mutter. Obwohl er achtzehn Jahre jünger war als ich. Neununddreißig. Aber wenn ich ehrlich war, hatte ich seine Fürsorge ganz gern.
"Wer leitet hier die Ermittlungen?" Ein kleiner vierschrötiger Mann um die sechzig trat aus einem der Kellerausgänge, die auf den Hinterhof der alten Mietskaserne führten. Er räumte ein paar Bretter weg, um die Tür freizubekommen. Der Mann trug eine gestrickte dunkelblaue Mütze nach Matrosenart, unter der dicht gewelltes, graues Haar hervorquoll. Er hatte Augen wie einer, der abwechselnd vom Instinkt und vom Suff lebt.
"Ich bin der Hausmeister", lallte er, "Jasmin mein Name." Suff.
"Hauptkommissarin Keller", sagte Andres und machte eine Handbewegung in meine Richtung. Ich wandte mich dem Mann zu. Jasmin. Natürlich. Nach vierzig Jahren vergisst man Namen. Er erkannte mich nicht.
"Kannten Sie den Toten?" fragte ich Jasmin.
"Wer kennt den nicht. Die waren doch neulich alle zur Besichtigung hier. Dicke Daimler und so. Aus'm Westen. Die Häuser hier werden verkauft."
"War Ihr Vater früher hier auch schon Hausmeister?"
"Versteh' ick nich." Instinkt.
Ich sah zu den Fenstern im zweiten Stock herauf. Die linke Hälfte des Küchenfensters bestand immer noch aus undurchsichtigem braunen Glas statt aus weiáem. Ich fragte mich, ob dahinter immer noch zwei Flaschen Korn der Marke "Weizenfreund" standen. Damals gab es nur die eine Sorte. 1948. Die Männer waren aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt und hatten Schmerzen. Deshalb tranken sie. Oder fühlten nichts. Und tranken deshalb. Wie mein Vater.
"Ist das Beweismaterial gesichert?", fragte ich Kommissar Andres. Der nahm mit einer Pinzette den blutigen Fleischlappen, bugsierte ihn in eine Plastiktüte und wurde grün im Gesicht.
"Heute war der Typ dann wieder da." Instinkt. Ich nahm ein goldenes Zigarettenetui aus meiner Tasche, klappte es auf und reichte es Jasmin herüber. Der steckte sich eine Camel hinter das linke Ohr und den Zwanzigmarkschein in die Hosentasche. "Im zweiten Stock, bei der Lilo, Lilo Mahlwein." Meine Schwester wohnte also immer noch hier.
Wir bahnten uns durch das Gerümpel in den drei Hinterhöfen einen Weg auf die Straße zurück. Im letzten Hausflur gab es kein Licht. Andres zündete ein Streichholz an. Eine Ratte erschrak und schrie auf. Im vorderen Hausflur brannte eine einzige Glühbirne. Einer der Beamten stolperte über die abgebrochene Holzverschalung der Wände, die schräg in den Flur hineinragte. Der Leerraum zwischen Verschalung und Mauerwerk wurde von den Hausbewohnern als Abfallbehälter benutzt. Farbe blätterte überall von den Wänden. Ich ging zu dem schmalen Treppenaufgang.
"Ist heute sowieso niemand zu Hause", sagte Andres, "Dynamo Dresden gegen ...".
Ich kratzte mit den Fingern ein wenig der ehemals grünen Farbe von der Wand, genau neben der Lichtleitung, dann weitere Farbe von der darunterliegenden braunen Schicht, bis ein heller Fleck zu sehen war. Darauf ein Herz und ein paar Buchstaben. "Mara und Lilo."
Gegen drei Uhr morgens war ich in mein Haus in der Königsallee in Grunewald zurückgekommen. In der Villa von Konsul Krüger nebenan war es dunkel. Frau Krüger wusste noch nichts von dem erbärmlichen Ende ihres Mannes. Sollte Andres ihr das beibringen. Ich hatte keinen Bock darauf. Meine Hündin sprang mich an und leckte mir das Gesicht ab. Ich hinterließ Vanda eine Nachricht auf Tonband. Ich war eine gute Kundin ihres Kosmetiksalons.
"Sie sehen phantastisch aus! Mit fünfundfünzig!" Siebenundfünfzig. Vanda war dreißig. Ich hatte zwei Jahre heruntergeschwindelt. Ich kaufte Vanda zwei Cremetöpfe zu je 140 Mark ab und gab ihr zwanzig Mark Trinkgeld.
Ich stieg in meinen Saab und kam kurz vor halb neun im Kommissariat an. Irgendwie schienen alle aufgeregter zu sein als sonst. Frau Zieske, die Sekretärin, sah mich sonderbar an. Ich ging in mein Büro. Ich musste lächeln. Ein Blumenarrangement aus blauen Lilien, gelben Narzissen und Seegras stand auf meinem Schreibtisch. Leo. Süß wie immer. Neben der Vase ein Plastiksäckchen mit einem Zettel daran und einem blutigen Stückchen Fleisch darin. Emma. Das konnte nur Kommissarin Emma de la Roche getan haben. Meine jüngere Kollegin. Sie machte ausschließlich ihrem Vornamen Ehre. Sie hatte ein Temperament wie die Henne in der Fernsehserie 'Graf Duckula' und sah auch so aus. Nach meiner Pensionierung würde sie meine Nachfolgerin sein. Ich riss die Tür auf.
"Wer hat den Scheiß hier liegenlassen?" Emma kam aus dem Nebenbüro angerast. Ich wunderte mich, dass sie mit ihren neunzig Kilo nicht durch die Wand donnerte wie in Graf Duckula.
"Das gehört in die Gerichtsmedizin! Wer schlampt hier so?!"
Kommissarin de la Roche musterte missgünstig mein weißes Seidenkostüm, ehe sie antwortete.
"Wir dachten, Sie sollten das sehen."
"Was für'n Quatsch."
"Dies ist nicht, wie soll ich sagen, das Glied von Konsul Krüger...", bemerkte Emma.
"Wessen Pimmel denn sonst?"
"Wohl heute nicht auf Dame geeicht, wie?"
"Auf Schwänze."
"Der Hausmeister aus der Ackerstraße, es ist heute früh passiert, Jasmin, ja, tatsächlich, Jasmin hieß der."
Hannes. Hannes Jasmin. Die Jasmins hatten die Nachbarwohnung. Ihr Küchenfenster lag direkt neben unserem, dem mit der dunkelbraunen Glasscheibe. Hannes war bei allen Mädchen der begehrteste Junge. Denn er hatte ein Fahrrad. Aus unergründlichen Quellen hatte er Farbe aufgestöbert, um die rostigen Stellen zu überstreichen, die das Gefährt im Laufe des Krieges angesammelt hatte. Hannes war drei Jahre älter als ich und ich war das einzige Mädchen, das vorne bei ihm auf der Stange sitzen durfte. Obwohl meine jüngere Schwester Lilo viel hübscher war als ich. Sie war damals elf. Nach dem Tod unserer Mutter hatte sie sofort alle Hausfrauenpflichten übernommen. "Geh mit Hannes Radfahren", sagte mein Vater oft zu mir, wenn er von seinen Gelegenheitsarbeiten nach Hause kam, nach dem "Weizenfreund" hinter der braunen Glasscheibe griff und zu uns ins Wohnzimmer kam. "Komm doch mit!" sagte ich manchmal zu Lilo. Aber sie blieb bei meinem Vater. Ich kümmerte mich nicht um das Geheimnis der beiden.
"Du Bullenschwein, fass mich nicht an!" Die kreischende Frauenstimme kam aus dem Flur. "Leckt mich am Arsch!" Die nächste Kreischerin. Ich vermisste die Stimme von Kommissar Andres. Er verstand es im allgemeinen, aufgebrachte Besucher zu beruhigen. Die Tür meines Büros wurde aufgerissen. Emma stemmte mit beiden Armen vier junge Frauen durch die Tür. Alle vier trugen grau-blaue Anoraks und hatten str„hnige Haare. Ich lächelte sie an. Nicht weil ich sie sympathisch fand, sondern weil sie Emma als "Bullenschwein" tituliert hatten. Die vier lächelten zurück. Ihr Blick blieb an meinen soeben lackierten knallroten Fingernägeln haften, mit denen ich in der Luft herumwedelte. Sie setzten sich brav und übten sich in weiblichem Verständnis.
"Was kann ich für Sie tun?" fragte ich.
Die vier begannen sofort wieder durcheinanderzukreischen. Ich suchte mir die größte von ihnen heraus. Sie war Ende zwanzig und wirkte auf mich wie eine Lehrerin. Sie trug Turnschuhe, billige hellblaue Jeans, einen rot-gelb gestreiften Pullover aus Synthetik, darüber einen gesteppten Anorak. Grau-Blau. Auf ihrem Schoß hielt sie eine Handtasche aus feinstem Nappaleder im Aktenformat, die mindestens sechshundert Mark gekostet haben musste. Erste westliche Dekadenz-Ambitionen. Wenigstens etwas Hoffnung. Ich beugte mich zu ihr rüber. Sofort packte sie einen Haufen Akten aus.
"Ihre Kollegen glauben, wir haben was mit den Morden zu tun."
Mein Schreibtisch füllte sich mit Papierkram.
"So?"
"Weil wir die Häuser in der Ackerstraße besetzt halten, aber wir...."
"Wir?"
"Na wir alle. Wir wohnen da. übrigens Lanza, ich heiße Mary Lanza."
"Keller, Mara Keller".
"Wir haben mit unserem Magistrat verhandelt. Und wir haben mit Ihrem Senat verhandelt. Schauen Sie!"
Die ersten Papierbündel begannen über die Kanten meines Schreibtisch auf den Boden zu rutschen. Ich sah einen Haufen amtlicher Stempel auf den Papieren.
"Wir bringen doch keinen um!"
"Besonders keinen von uns."
"Den Jasmin".
"Obwohl dem sein Vater Blockwart war."
Alle redeten auf einmal.
"Ruhe! sagte ich. "Bitte, Frau Lanza."
Die Lehrerin bückte sich und zog mit einer gezielten Bewegung einen Zettel aus dem Papierberg auf dem Fußboden.
"Da!"
Das Schriftstück war vor vier Tagen datiert. Konsul Krüger erklärte sich darin bereit, von der Ersteigerung der fraglichen Grundstücke in der Ackerstraße abzusehen, sofern der Magistrat mit den Besetzern Nutzungsverträge abschlösse.
Schien ein Goldjunge gewesen zu sein, mein Konsul.
"Wissen davon alle?"
Die Lehrerin kroch noch einmal unter meinen Tisch und hielt mir triumphierend ein Flugblatt unter die Nase. Datiert vor drei Tagen. Mit besagter Erkl„rung des Konsuls darauf.
"Wer hat Sie eigentlich hergebracht?" fragte ich.
Gekreische.
"Stasi-Typen. Jetzt alles West-Bullen."
"Sie können gehen", sagte ich zu der Lehrerin. Ich wartete nicht, bis sie ihre Papierberge eingesammelt hatte, sondern ging zur Tür.
Gekreische im Flur. Junge Leute, alle mit Anoraks und hellblauen Jeans. Mittendrin Andres. Ich drängelte mich zu ihm durch. "Was sagt die Gerichtsmedizin?"
Gekreische. "Wie?" brüllte Andres.
"Die Todesursache von Krüger und Jasmin!?"
"Rattengift. KMNS-113."
"Wie?"
"So heißt das Zeug. Die einzige Sorte, die es in der DDR gibt ... der ehemaligen..." Gekreische.
"Kastriert wurden sie später." Gekreische.
"Was wollen die alle hier?"
"Es könnten Kriminelle in der Hausbesetzerszene sein. Vielleicht aus dem Westen importiert."
"Dann wissen Sie ja, womit Sie sich bis heute abend beschäftigen können."
Der arme Andres. Ich wedelte mit meinen roten Fingernägeln in der Luft herum und ging den Flur entlang. Nachher würde ich Leo anrufen und mich für die Blumen bedanken. Er würde eine Flasche Dom Perignon mitbringen und seiner Frau am nächsten Morgen eine Lüge erzählen.
Ich setzte mich in den Saab und fuhr zur Ackerstraße zurück. Das Fenster mit dem braunen Glas. Ich ging hoch und klingelte. Niemand öffnete. Ich hatte mich oft gefragt, wieso ich Lilo nach dem Tod unseres Vaters nie mehr wiedergesehen hatte. Wahrscheinlich war unser Leben zu verschieden geworden. Ich hatte mit dem Psychologiestudium begonnen und kurz danach Frédéric Keller kennengelernt. Eigentlich war er in Lilo verliebt. Sie stellte ihn mir vor, und einen Monat später waren Frédéric und ich verheiratet. Frédéric stammte aus einer wohlhabenden Genfer Familie und wollte Wissenschaftler werden. Wie ich auch, bevor ich bei der Kripo landete. Wir zogen in den Westen der Stadt. Später in das Haus in der Königsallee, in dem ich immer noch wohnte.
"Du bist pathologisch verliebt in den Dreck, in den du dich bei deiner Arbeit eingräbst!" Das war der einzige grobe Satz Frédérics in unserer vierzehnjährigen Ehe. Einen Monat vor der Scheidung.
Nach meinem Staatsexamen hatte ich Lilo noch einmal besucht. Am Abend war mein Vater wie üblich betrunken nach Hause gekommen. Er sprach kein Wort mit mir. Er nahm eine Flasche Korn, stand auf und sagte zu Lilo: "Komm". Beide verschwanden für eine Weile im Badezimmer. Als sie zurückkamen, knöpfte mein Vater seine Hose zu und Lilo hatte leere Augen. Inzwischen wusste ich, was das bedeutete. Aber ich stand auf und ging nach Hause, ohne etwas zu sagen. Dies alles war nicht mehr mein Leben. Bis gestern.
Ich ging durch die drei Hinterhöfe wieder nach vorn und blieb an der Stelle im Hausflur stehen, wo ich die Farbe abgekratzt hatte. Zum ersten Mal in den letzten zwei Tagen wurde mir bewusst, dass die beiden kastrierten Toten zu meinem Leben gehörten. Ich hoffte, dass es ein Zufall war.
Ich ging auf die Straße zurück ein paar Häuser weiter. "Schokoladenfabrik" stand über einer verwitterten Haustür. Es schien eine Kneipe zu sein. Ich kämpfte mich durch verschiedene Wolldecken, die ihren offensichtlichen Zweck, vor Zugluft zu schützen, verfehlten, und betrat das Lokal. Es war ein schmuddliger Raum, der von einem eisernen Ofen mühsam beheizt wurde. Jetzt am späten Nachmittag war noch nicht viel los. Nichtssagende politische Plakate an den Wänden, Holzstühle, und ein Tresen, über dem ein Schild mit der Aufschrift "Flaschen und Getränke" hing. Davor eine Traube von Kids zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig. Die meisten tranken Schokolade mit Sahnehäubchen darauf. Die wenigsten Alkohol. Niemand beachtete mich. Ich bestellte auch eine Schokolade. Ich beobachtete eine niedliche Ost-Studentin mit Pferdeschwanzfrisur, die sich mit einem Weststudenten unterhielt. Der Wessi erläuterte ihr ausgiebig, wie langweilig es in Australien und Kanada sei. Die Kleine lächelte höflich.
"Wie lange gibt's das Lokal hier schon?" fragte ich aufs Geradewohl in die Runde.
"September '89". Zehn paar naiv-stolze Kid-Augen fixierten mich.
"Habt Ihr was mit den Hausbesetzern zu tun?" Ich überlegte, ob das "du" passend war.
"Sind wir selber". Zehn noch stolzere Kid-Augenpaare.
Ich trank meine Schokolade zu Ende und ging. Ich war überzeugt, daá ich hier nicht weiter zu suchen brauchte.
Ich fuhr die Ackerstraße hinunter bis zu den Überresten der ehemaligen Mauer, in den Westteil der Stadt. Langweilige Neubaufassaden aus den sechziger Jahren, Stadtautobahn, Kurfürstendamm, Halensee, Königsallee. Villen aus der Gründerzeit mit riesigen Säulenportalen. Gusseiserne Gartenpforten ohne Namensschilder. Dazwischen das kleine Jugendstilhaus, das Frédéric mir nach unserer Trennung geschenkt hatte. In der Nachbarvilla brannte diesmal Licht. Ich beschloss, Frau Konsul Krüger einen Höflichkeitsbesuch abzustatten. Eine Hausangestellte mit blau gefärbten Haaren und schnippischem Gesicht öffnete auf mein Klingeln. Frau Krüger schob sie grob zur Seite.
"Sorgen Sie dafür, dass Ihr Hund aus meinem Garten verschwindet."
"Ich leite die Ermittlungen wegen Ihres Mannes."
"Seit zehn Jahren lassen Sie Ihren Zaun nicht reparieren."
"Es tut mir leid", sagte ich, obwohl es nicht stimmte. Frau Krüger sah in ihrem schwarzen Leinenkostüm, den hochgesteckten dunklen Haaren mit den winzigen weißen Fäden darin und ihrem dezentem Make Up noch eleganter aus als sonst. Sie war fünundvierzig und stammte aus einer aristokratischen Familie.
"Es tut mir leid", sagte ich nochmal und meinte es ernst. Die Hausangestellte verschwand und ich setzte mich in einen der Ledersessel in der riesigen Diele, deren Wände mit geschmacklosen dorischen Säulen verziert waren.
"Ich dachte manchmal, Sie hätten eine Affäre mit meinem Mann", sagte Frau Krüger und bewahrte dabei ihre aristokratische Fassung.
"Haben Sie in letzter Zeit fremde Personen bemerkt?"
"Nein". Frau Krüger überlegte. "Nur eine blonde Frau, sie ging erst zu Ihrer Tür, dann zu meiner und noch ein paar mal hin und her."
Ich ging zu meinem Haus rüber. Der Anrufbeantworter blinkte. Frédéric. Ich wählte die Genfer Nummer.
"Was machst du immer so?" Frédérics Stimme klang beruhigend wie immer.
"Dreck. Erzähl mir was von dir."
"Das Übliche. Ein neues Buch. Über Resozialisierung von Straftätern."
"Du gibst wirklich nie auf."
"Deine Schwester Lilo hat mich angerufen. Nach so vielen Jahren, ob ich mal nach Berlin käme. Komisch, wie?"
Einige der Lichter in der Villa nebenan wurden ausgelöscht.
"Lass dir Zeit mit dem Kommen."
"Steckst du in Schwierigkeiten?"
"Nein."
"Dann komm hier her. Es ist schön hier im Frühling."
"Bald. Ganz sicher."
Die Lichter in Konsul Krügers Villa waren erloschen. Ich rief Leo an. Ich sehnte mich nach der Wärme seines Körpers. Aber vorher hatte ich etwas zu erledigen. Ich schnallte mir das Halfter mit der 9 mm-Automatik um und zog ein schwarzes Chanel-Kostüm darüber. Ackerstraáe. Zum dritten Mal heute. Ecke Invalidenstraße. Ich ging durch einen engen Gang in den zweiten Hinterhof bis zu dem hell erleuchteten Schild "Altdeutsches Ballhaus". Ich bezahlte einem Portier mit schwarzen Anzug und Fliege zwei Mark und zehn Eintrittsgeld, ging die paar Stufen bis zur Bar hinunter und betrat den riesigen Saal. Ich blieb stehen und schloss die Augen. Die Luft schien stickiger zu werden. Bierdunst. Schweißgeruch. Das Stampfen der Tänzer auf dem Parkett. Die drittklassige Kapelle auf dem Podest vorne.
Lili Marleen, Caprifischer, Hans Albers. Die flaniernden Mädchen des einstigen Café Bauer, das inzwischen ein Trümmerhaufen war, hier konnten sie wieder sein, die sei einmal waren, bevor die Sorge um die kargen Lebensmittelrationen und die vom Kriege kranken Männer ihren Gesichtern das Leben gestohlen hatte. Und wir Jungen. Lilo, ich, Hannes, Frédéric und die anderen, die wir noch nicht verstehen konnten, dass das Leben, das zu diesen Liedern passte, für immer vorbei war. Es war uns auch egal. Ich schlug die Augen wieder auf. Die ölige Stimme von Engelbert klirrte aus zwei Lautsprechern durch den leeren Tanzsaal. Ich ging zur Bar.
Am rechten äußeren Ende des Tresens stand ein schmächtiger Mann um die vierzig mit Menjou-Bärtchen, schlecht gebügeltem dunkelblauem Anzug und traurigem Blick. Am linken Ende, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, saß eine dicke Frau unbestimmten Alters. Sie hatte eine platinblond gefärbte Ponyfrisur in der Art eines jungen Mädchens. Sie war betrunken. Sie trug eine knallrote Bluse aus durchsichtigem Stoff, durch den man die Fettpolster zwischen den zu engen Trägern ihres Büstenhalters und die Orangenhaut an den Oberarmen deutlich sehen konnte. Ihre Augen waren hinter Tränensäcken und falschen schwarzen Wimpern versteckt. In der Mitte zwischen den beiden saß ein Mann Mitte fünfzig mit zwei Flaschen Krimsekt und freundlichen blauen Augen. Ich ging auf die Frau zu.
"Guten Tag, Lilo."
Meine Schwester sah mir einem Moment lang fest in die Augen. Dann verrutschte ihr Blick wieder und schwamm über mein Chanel-Kostüm.
"Jetzt kommst du erst?"
Lilos kindliche Stimme hatte sich seit damals nicht verändert.
"Warum!?"
Lilo schwankte auf ihrem Barhocker hin und her. Ich stützte sie am Arm ab.
"Warum!?"
"Warum ich sie getötet habe? Deine Liebhaber?"
Unter den überschminkten Tränensäcken die wissenden Augen eines elfjährigen Mädchens.
"Ich hätte dich mit Vater nicht allein lassen dürfen", sagte ich, "ich habe das damals nicht verstanden."
"Du wolltest es nicht verstehen."
"Ich wollte leben."
"Du hast sie mir weggenommen. Alle, die mir geh”rten. Hannes, Frédéric..."
"Konsul Krüger hat dir nicht gehört. Er war nur mein Nachbar."
"Hätte Frédéric mich geheiratet, wäre er heute mein Nachbar."
Lilos kindliche, allwissende Stimme. Ich erkannte, dass sie wahnsinnig war. Seit jenem Tag in ihrem elften Lebensjahr, als mein Vater sie das erste Mal vergewaltigt und ich nichts dagegen getan hatte.
"Ich werde dich in ein Heim bringen. Du wirst es gut dort haben ..."
Blue Spanish Eyes klirrten aus den Lautsprechern. Der Kerl mit dem Menjou-Bärtchen kam auf uns zu. Er schwitzte vor Aufregung. Er forderte Lilo zum Tanz auf. Sie waren das einzige Paar auf dem Parkett. Der Mann quetschte Lilos Bauch gegen seinen schmächtigen Körper, damit er sie mit dem Arm umfassen konnte. Lilo warf mir einen triumphierenden Blick zu.
Ich tastete nach der 9 mm-Automatik unter meiner Chanel-Jacke. Der Mann mit den zwei Krimsektflaschen sah mich freundlich an. Ich lächelte zurück. Ich hätte gern mit ihm geflirtet. Mir war schwindlig. Ich ging durch die zwei Hinterhöfe auf die Straße zurück. Meinen Saab ließ ich stehen. Ich ging über eine Stunde zu Fuß und nahm mir dann ein Taxi bis nach Hause.
Im Wohnzimmer brannnte Licht. Leo hatte einen Hausschlüssel. Ich nahm den Pistolenhalfter ab und zog mich aus. Ich betrachtete ich mich im Spiegel. Mein Körper war schlank und durchtrainiert. Er gefiel mir. Ich ging ins Schlafzimmer. Leo lag auf dem Bett. Die Beine leicht gespreizt. Die Flasche Dom Perignon war heruntergefallen. Ich hob sie auf. Über das ganze Bett war Blut verspritzt. Leo hatte Schaum vor dem Mund. Ich fragte mich, wie Lilo es in der kurzen Zeitspanne geschafft hatte, ihm das Rattengift einzuflößen. Ich legte ein Kissen auf Leos entblößten Unterleib. Die Wand rechts neben mir senkte sich im spitzen Winkel zu mir herunter. Kurz bevor ich mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug, konnte ich mich mit der rechten Hand abfangen. Ich zog Rock und Jacke des Chanel-Kostüms an. Sonst nichts darunter. Die 9 mm Automatik ließ ich liegen. Taxi. Ackerstraße. Das Fenster mit der braunen Glasscheibe. Diesmal erleuchtet. Die Wohnungstür war offen. Meine Schwester stand am Fensterbrett und schaute zum Hof hinaus.
Ich blieb in der Tür stehen.
Ich zog Jacke und Rock meines Chanel-Kostüms aus und ließ beides auf den Boden fallen. "Sieh mich an!"
Lilo wandte ihren Blick vom Fenster weg. Sie starrte mich an. Ich fühlte mich sicher.
"Zieh dich aus!"
Lilo blieb bewegungslos am Fenster stehen.
"Zieh dich aus!"
Lilo knöpfte ihre rote Bluse auf und zwängte ihre Arme durch die zu engen Nähte. Ich lieá sie nicht aus den Augen. Sie nestelte am Verschluss ihres Büstenhalters herum, der seitlich von verbogenen Stangen gehalten wurde. Lilos milchig-weißer, aufgedunsener Körper begann zu zittern. Sie verkreuzte ihre Arme vor ihrem Bauch und bedeckte mit den Händen ihre Brüste. Schwarze Wimperntusche lief über ihre Wangen. Eine Art Grunzgeräusch und ein wimmernder Laut kamen zugleich aus ihrer Kehle.
Meine schöne junge Schwester weinte.
"Weiter!" befahl ich.
Lilo tastete mit einer Hand hinter sich, zum Reißverschluss ihres Rockes. Für einen kurzen Moment betrachtete ich mich im Spiegel über der Spüle. Sieg. Mitleid. Beides. Ich ging langsam auf meine Schwester zu. Zu spät sah ich das Messer in ihrer Hand. Ein spitzes Küchenmesser. Sie stach blitzschnell zu. Mit einer raschen Bewegung drehte ich mich zur Seite, so dass das Messer nur eine leichte Wunde in meiner linken Hüfte verursachte. Lilo griff sofort wieder an. Ich versuchte ihr mit dem linken Arm das Messer aus der Hand zu schlagen. Aber ich hatte ihre Kraft unterschätzt. Sie stach noch einmal zu und traf meinen Arm. Ich unterdrückte den Schmerz, stützte mich mit beiden Händen am Küchentisch hinter mir ab, riss meine Füße hoch und rammte sie in ihren Bauch. Lilo schwankte benommen hin und her. Ich verpasste ihr einen Kopfstoß.
Meine schöne junge Schwester brach zusammen und blieb leblos am Boden liegen.
Zwei Straßen weiter fand ich eine Telefonzelle und weckte Kommissar Andres und Emma. Ich vergaß mein Portemonnaie in der Telefonzelle und ging den weiten Weg zur Königsallee zu Fuß. Ein paar Mal verlief ich mich. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass morgen das ganze Kommissariat müde und schlechtgelaunt sein würde. Besonders Emma. Gegen vier Uhr morgens war ich zu Hause. Andres hatte die Spuren des Mordes, so weit es ging, beseitigen lassen. Ich ließ mich in einen Sessel fallen und streckte die Beine aus. Laika sprang auf meinen Schoß und leckte mir das Gesicht ab.
Hunde mögen das Salz der Tränen.....
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